„Die Istanbul-Konvention ist nicht nur eine nette Empfehlung, sondern bindend!“

100 Fachkräfte diskutieren im Rathaus zum Thema „Umgangsrecht & Häusliche Gewalt“

© Stadt PaderbornMachten die Fachtagung zu einer gelungenen Veranstaltung (v. l.): Prof. Dr. Kerstin Feldhoff (Münster), Dr. Susanne Heynen (Stuttgart), Dr. Christine Böttger (Bremen), Bürgermeister Michael Dreier, Christa Mertens (stv. Gleichstellungsbeauftragte Stadt Paderborn), Eva Galle (Stadtjugendamt), Kinga Dürksen (Frauenhaus Paderborn), Linda Hesse (Kreisjugendamt), Simone Böhmer (Kreis Paderborn) und Julia Ures (Moderatorin).

Montag, 21. November 2022 | Stadt Paderborn - Bereits zum dritten Mal stellte der Bürgermeister der Stadt Paderborn dem Paderborner Kooperationsprojekt „Häusliche Gewalt“ das Rathaus für einen Fachtag zur Verfügung – und dies „sehr gern“, wie Michael Dreier betonte: „Es hat eine besondere Bedeutung, Veranstaltungen zum Thema ‚Gewalt gegen Frauen und Kinder‘ in das Rathaus der Stadt zu holen. Damit signalisieren wir, wie wichtig es uns ist, diese Problematik zu enttabuisieren und darüber aufzuklären.“ Ausdrücklich bedankte er sich bei dem gesamten Kooperationsprojekt „Häusliche Gewalt“. Dieser Runde Tisch aus Angehörigen der gesamten Beratungslandschaft Paderborns, sei, so Dreier, „ein besonders gelungenes Beispiel gut funktionierender Netzwerkarbeit.“

Die Tagung richtete sich an Fachkräfte, die in ihrer Arbeit Berührungspunkte zum Thema Umgangsrecht und Häusliche Gewalt haben. Die große Resonanz von 100 Teilnehmenden bestätigte die Auffassung des Kooperationsprojektes, dass noch zu wenig Wissen über dieses wichtige Thema vorhanden sei: „Die Auswirkungen von häuslicher Gewalt werden häufig nicht als potentielle Gefährdung des Kindeswohls erkannt und bleiben bei der Entscheidung über das Umgangsrecht außen vor. Ein Zusammenwirken von Fachkräften der Jugendämter, Beratungsstellen, Anwält*innen, Verfahrensbeiständ*innen und Familiengerichten ist zum Wohl der Kinder und Jugendlichen unerlässlich.“

Die Referentinnen, alle ausgewiesene Expertinnen auf ihrem jeweiligen Fachgebiet, wurden sorgfältig ausgewählt, um einen umfassenden Überblick über das komplexe Thema zu geben.

Dr. Susanne Heynen, Leiterin des Jugendamtes Stuttgart, sprach von der „erzwungenen Intimität“ in der Verhandlung des Umgangsrecht zwischen den einstigen Ehepartnern: Das Opfer sei gezwungen, sich mit dem Täter auseinanderzusetzen. Dies sei eine erhebliche Belastung für die Frau. In den meisten Fällen ist es immer noch die Frau, die zum Opfer häuslicher Gewalt wird, und dies oft in besonders vulnerablen Lebensphasen wie der Schwangerschaft oder der Geburt eines Kindes. Auch die Zeit der Trennung und Scheidung sei eine Zeit der Gefahr, die nicht nur zum Femizid führen könne, sondern auch zur Tötung von Kindern. 25 Prozent der Kinder, die in Deutschland getötet würden, so Dr. Heynen, verlören ihr Leben im Kontext von Trennung und Scheidung ihrer Eltern.

Die Auswirkungen des Miterlebens häuslicher Gewalt zwischen ihren Eltern seien für Kinder dramatisch, würden jedoch vielfach unterschätzt. Kinder, die Gewalt im Elternhaus mitbekämen, seien nicht einfach nur „Zeugen“, bloße Beobachter, die etwas von außen betrachteten. Nein: Kinder er-lebten, durch-lebten diese Gewalt selbst. Sie erführen selbst Gewalt, indem sie die Gewalt ihrer Eltern mit ansehen müssten. „Die Trennung“, so Dr. Heynen, „kann für Kinder eine Erlösung sein.“ Die meisten Meldungen bzgl. Kindeswohlgefährdung stünden im Zusammenhang mit Häuslicher Gewalt.

Die Leiterin des Jugendamtes Stuttgart sieht in der „Istanbul-Konvention“, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt eine große Chance, den Blick auch auf von häuslicher Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche zu richten.

Dem pflichtet die zweite Rednerin des Tages, Dr. Christine Böttger vom Fam-Ki Institut für Familienrecht und Kindeswohl Bremen bei und unterstreicht: „Die Istanbul Konvention ist nicht nur eine nette Empfehlung, sondern bindend!“

Auch Dr. Böttger gelangt zu dem Fazit, dass Eltern selbst häufig unterschätzten, wie stark ihre Kinder von der häuslichen Gewalt betroffen seien. „Miterlebte Gewalt ist Kindeswohlgefährdung“, so ihre glasklare Einschätzung. Für die Frau sei die Zeit nach der Trennung die gefährlichste. Gerade in dieser sensiblen Phase jedoch würde über das Umgangsrecht entschieden. Meist seien die Frauen noch gar nicht dazu in der Lage. Es geschehe eine „sekundäre Viktimisierung“ durch das Verfahren. Die gemeinsame Anhörung sei äußerst belastend für die Frauen. Es gebe, so Dr. Böttger, einen „Riesenwunsch“ vieler Frauen nach einem Umgangsausschluss. Dieser werde aber meistens nicht ausgesprochen. Oft präsentiere sich der Täter gut und der zunächst begleitete Umgang werde später in einen unbegleiteten Umgang umgewandelt.

Der Kindeswohlbegriff in Deutschland sei von einer Positivbestimmung gekennzeichnet: „Es wird davon ausgegangen, dass es zum Wohl des Kindes ist, wenn das Kind Umgang mit beiden Eltern hat.“ Wie ihre Vorrednerin Dr. Heynen kommt jedoch auch die Expertin aus Bremen zu dem Schluss, dass dies mitnichten immer der Fall ist.

„Wir haben“, so Dr. Christine Böttger, „eigentlich ausreichend Gesetze, um Frauen und Kinder zu schützen. Oft wird die Gewalt jedoch nicht erkannt oder kann nicht bewiesen werden.“ Die „Istanbul-Konvention“ sei leider noch wenig bekannt.

Auf den rechtlichen Aspekt schließlich hebt auch die dritte Rednerin des Tages ab, Juristin Prof. Dr. Kerstin Feldhoff von der FH Münster. Auch sie warnt davor, die Gefahr von Kindern in Trennungssituationen zu unterschätzen. Diese gehe bis zur „Lebensgefahr“. Bindungstoleranz sei ein Kriterium für den Erhalt des Sorgerechts. Sie gibt zu bedenken: Das Kind habe zwar ein Recht auf den Umgang mit beiden Elternteilen. Umgekehrt aber es gebe keine Pflicht des Kindes zum Umgang. Die Frauen befänden sich in einem Dilemma: Aus Angst, dass die Kinder ihnen weggenommen werden, verschweigen viele Mütter die Gewalt.

Die „Istanbul-Konvention“ nehme beide in den Blick: Frauen und Kinder. Dort gebe es keine künstliche Trennung der Rechte von Frauen und Kindern. Allerdings: „Ich habe den Eindruck, dass die UN-Kinderrechtskonvention und die Istanbul-Konvention noch nicht angekommen sind.“

Die Fachtagung endete mit einer engagierten Diskussion des Publikums mit den Referentinnen, die zahlreiche Facetten der komplexen Thematik aufgegriffen hatten. Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen förderte die rundum gelungene Veranstaltung.

Stadt Paderborn

Amt für Öffentlichkeitsarbeit und Stadtmarketing